Dieses Buch ist wie eine schimmernde Perle, die ihr ganz unverhofft in einer dieser Muscheln entdeckt. Ein kleiner (literarischer) Schatz, der unerwartet daher kommt…
Für jedes Buch gibt es den richtigen Moment, und die Spätsommertage am See, während ich es gelesen habe, waren meiner. Ich war sofort versetzt in die Karibik, in den Port of Spain, ins Jahr 1976. Dazu haben weniger ausschweifende Landschaftsbeschreibungen beigetragen als vielmehr die Sprache der wörtlichen Rede, die von der Own Voice-Autorin Monique Roffey geschrieben, von Gesine Schröder meisterhaft ins Deutsche übersetzt wurde. Dadurch konnte ich sofort und unmittelbar in die Geschichte, in die Wellen des Atlantik eintauchen.
Die Story an sich ist keine ganz Neue: eine Meerjungfrau zieht einen jungen Mann in ihren Bann (allerdings singt er – nicht sie! ;)) wird gefangen genommen, misshandelt, verwandelt sich in einen Menschen zurück. Doch das Glück währt, wie meist im Märchen, nur kurz…

Abwechselnd aus ihrer Sicht und der Sicht ihres Geliebten geschildert, entfaltet sich hier wunderschönes kleines Epos, dass auf der kubanischen Legende der „Aycayia“ basiert. Wie viele Völker hatten auch die Ureinwohner der Karibik ihre eigene Geschichte der Meerfrau.
Das Buch verzaubert, allerdings weniger durch Mystik. Am ehesten würde ich es der Gattung des magischen Realismus zuordnen, denn im Vorbeigehen spielen auch die Themen Kolonialismus, Feminismus und Gesellschaft eine tragende Rolle.
Absolute Leseempfehlung für einen kleinen geistigen Kurzurlaub in der Südsee, und definitiv eines meiner Jahreshighlights!

Ganz abgesehen vom Inhalt: auch die Covergestaltung erhält von mir eine 10/10, da sie nicht zu viel verrät, dabei aber durch die Musterung des Schildkrötenpanzers den korrekten regionalen Bezug herstellt – Farbgebung & Font zudem ein Traum 🙂

Erschienen 2022 im Tropen Verlag, übersetzt von Gesine Schröder, 240 Seiten