Eine Zeit lang hatte ich die Lust am Lesen von richtig dicken Büchern, von richtig anspruchsvollen Romanen, irgendwie verloren. Ich vermute, das hängt stark damit zusammen, dass man mehr und mehr nur noch Informationshäppchen in mundgerechten Portionen gewohnt ist – werden sie einem doch täglich aus jeglichem Medium um die Ohren – oder Augen – gehauen. Sachbücher, Dystopien, hin und wieder ein Thriller standen auf meiner Leseliste der letzten Monate, aber für Romane fehlte mir irgendwie die Motivation.

Sich wieder auf ein Buch einzulassen, hat bei mir etwas Zeit und einige Anläufe gedauert, doch den neuen Roman von Juli Zeh konnte ich kaum aus der Hand legen und mich endlich wieder in fremde Welten vertiefen und versenken. Ein gutes Zeichen, und meine wiederentfachte Leselust ist seitdem auch nicht mehr abgeflaut!

Juli Zeh habe ich schon immer gern gelesen, seit ich durch eine theaterspielende Freundin mit ihren Stücken in Berührung kam. Für Bewegtbild-Freunde gibt’s zwei ihrer Romane auch als Filme: Schilf und Spieltrieb. Die Schreibe der deutschen Schriftstellerin und Juristin, die sich politisch stark engagiert, ist durchweg sehr angenehm und unaufgeregt zu lesen, die Romane sind immer – auch wenn der Klappentext einen vielleicht nicht sofort anspringt – lesenswert. Vor kurzem ist nun ihr neuer Roman erschienen: Unterleuten.

Beim Titel „Unterleuten“ setzte ich im Kopf zunächst ein Leerzeichen dazwischen – unter Leuten. Der Titel ist bewusst gewählt, denn auch wenn Unterleuten ein fiktives Dorf ist, geht es genau darum. Leben unter Leuten, auf dem brandenburgischen Land. Ein Hipster-Pärchen aus Berlin – er alternder Dozent, sie seine junge Studentin und inzwischen auch Mutter seines Kindes – leben den Traum, den viele Großstadtpaare, die Eltern geworden sind, träumen, und ziehen aufs Land. Ins ehemals ostdeutsche Hinterland, sozusagen.

Dort ist man von Neuankömmlingen und generell allem, was neu ist, wenig begeistert, und vor allem eines: skeptisch. Denn: früher war alles besser. Ging seinen gewohnten Gang. Man wusste, wer man war, und wohin man gehörte, hatte einen Job, hatte Familie. Hatte vielleicht nicht die größten Perspektiven, aber einen Platz und einen Nutzen. Dann kam die Wende. Jobs gingen verloren, Familien zerfielen, Traditionen wurden gebrochen und so manch einer der Dorfbewohner hat seinen Sinn im Leben aus den Augen verloren.

Der alternde Dozent nimmt eine Stelle als Vogelschützer an, seine Freundin hingegen merkt, dass die anfänglich idyllische Vorstellung vom ruhigen Leben auf dem Land mehr als fragil ist. Zu guter Letzt soll rund um den Ort nun auch noch ein Windpark errichtet werden – der Vogelschützer geht auf die Barrikaden und die Lage im Dorf eskaliert.

Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde.

Die Handlung des Buches ist vielleicht keine ganz neue, keine ganz außergewöhnliche. Bei Zehs Romanen ist das häufig so – sie leben von der detaillierten, auf den Punkt gebrachten Beschreibung der Charaktere – so auch in diesem Roman, der aus der Sicht der verschiedenen Bewohner erzählt wird.

Niemals würde Kron verstehen, wie die Leute in der Lage waren, mit harter Arbeit kaum das Existenzminimum zu erreichen und dennoch zu glauben, dass sie in der besten aller Welten lebten. Sie waren wie Gombrowskis Kühe, die auch nicht mehr gemolken und geschlachtet, sondern verwaltet wurden. Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde.

S.108

Hierbei wird keine der Figuren weichgezeichnet, idealisiert oder stigmatisiert, viel mehr beginnt der Lesende, Verständnis aufzubauen – für Wendegewinner, Wendeverlierer und gänzlich unbetroffene, zugezogene. Für Bauern und Unternehmer, die ihre fast schon traditionsgewordene Fehde weiter kultivieren, obwohl keiner so Recht weiß, worin diese ihren Urpsprung hat. Für eine Mutter, die nur das Beste für ihr Kind will, und darüber vergisst, was sie eigentlich möchte. Für den Nachbarn einen Zaun weiter, der rücksichtslos in ihren Wohnraum eindringt. Für Affären, für Totgeschwiegenes, für Bürgermeister- und für Bürgerinteressen.

War denn der Kommunismus eine so schlechte Idee, wenn ein alteingesessenen Ostdeutschen, der vergangenen Zeiten hinterhertrauert und diese idealisiert, aktuelle Entwicklungen so pointiert kritisiert, dass man kurz stockt und sich denkt: Recht hat er?

Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Es war ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Symstens, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biografie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. In Schulen, die jetzt „Lernumgebungen“ hieß, wurde nicht mehr unterrichtet, sondern Projekte entwickelt, Lernprozesse evaluiert und in Kernkompetenzen investiert. Die Krankenhäuser hatten sich in Gesundheitsfabirken verwandelt, in denen sich eine industrialisierte Medizin nicht um den Patienten, sondern um die Bettenrendite kümmerte […]

S. 107

Unterleuten ist ein wirklich großartiger Roman, dabei aber ganz unaufgeregt. Ein Pageturner, den man aber trotzdem zwischendurch aus der Hand legen kann -und vielleicht auch muss – um die Geschehnisse nachwirken zu lassen. Zwischen den Zeilen wird so vieles angesprochen, wird Kritik an so vielen aktuellen Entwicklungen geübt, dass jeder etwas aus diesem Buch für sich mitnehmen kann. Best-Bewertung dafür von mir und eines der Bücher, das im Regal bleiben darf – auf Lebenszeit.

Die beiden gehörten zu einer fremden Spezies. […] Sie waren selbstständig, selbstsicher, selbstbewusst, wandelnde Selfies, zwei dauerbewegte Selbstporträts. Wenn Meiler sich die junge Generation vorstellte, sah er eine Armee von jungen Leuten mit ausgestrecktem rechten Arm, nicht zum Führergruß, sondern um das eigene Gesicht mit dem Smartphone aufzunehmen.

S. 551

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