Stell‘ dir eine Gesellschaft vor, in der dein Charakter tatsächlich entscheidet, welchen Platz du im Leben einnimmst. Eine, in der Empathie belohnt wird und Ellbogen-Mentalität abgelehnt. Also quasi das Gegenteil von der, in der wir aktuell leben. Einer, in der Männer aufgrund ihrer (bisherigen) Sozialisierung einen Nachteil haben und die sogenannten „soft skills“ endlich den Stellenwert einnehmen, der ihnen gebührt.

Klingt gut? Das mag man im ersten Moment annehmen. Aber mit einer Glorifizierung des Konsens der Mehrheit stirbt auch vieles ab: eine gesunde Diskussionskultur mit all ihren Facetten. Streitkultur sowieso (und ob das eine Kultur ist, darüber wäre an dieser Stelle zu streiten. Höhö.) Die freie Meinungsbildung und Äußerung wird ebenso in Frage gestellt wie letztendlich auch individuelles Denken.

Es ist ein äußerst spannendes Szenario, dass uns Fríða Ísberg in ihrem Roman „Die Markierung“ eröffnet. Ich habe gerade gezögert, ob ich „Dystopie“ schreiben soll, denn je nach eigenem Standpunkt kann es sicher auch eine Utopie sein! Ein Empathietest, auch „die Markierung“ genannt, entscheidet in dem von Ísberg skizzierten Island der nahen Zukunft darüber, welcher Wert einem Menschen beigemessen wird. Zunächst wird er nur dazu genutzt, Politiker*innen auf ihre zwischenmenschliche Eignung hin zu prüfen hinsichtlich der Führung eines Landes. Dabei gibt es keinen Zwang dazu, sondern eher eine Art „freiwilliger Selbstverpflichtung“, denn als vertrauenswürdig gilt irgendwann nur noch, wer bestanden hat: markiert ist.

Im Prinzip versucht die Gesellschaft festzulegen, ob die statistische Wahrscheinlichkeit einer Straftat eine Verletzung der Privatsphäre rechtfertigt, ob es vertretbar ist, vor potenziellen Straftätern zu warnen, was unmöglich zu beantworten ist, ohne die Frage in tausend kleine Frage aufzuspalten – wie die Wahrscheinlichkeit berechnet wird, was eine Straftat ist und was eine Verletzung der Privatsphäre.

Schnell weitet sich der Test auch in der restlichen Bevölkerung aus. Irgendwann gibt es Wohnviertel, speziell für Markierte. Man möchte unter sich bleiben, in Sicherheit bleiben. Irgendwann wird die Markierung schließlich zur Zugangsvoraussetzung für vieles mehr: den Supermarkt, die Schule. Wer sich nicht markieren lassen möchte, bleibt außen vor. Die Angst, als nachweislich unempathisch zu gelten, wächst. Und irgendwann, da eskaliert sie. Und dann eskaliert alles…

[…] eine Tatkraft, die sie früher auch besessen hatte, bevor sie begann, zu zögern und zu zweifeln, bevor sie begann zu schweigen, anstatt ihre Meinung zu sagen. Da ist sie nicht die Einzige. Auch andere haben angefangen, zu schweigen. Zu schweigen und zuzuhören, zu überlegen, beide Seite zu verstehen und sich nicht zu trauen, eine Ansicht zu vertreten, weil eine Ansicht Verallgemeinerung ist und Verallgemeinerung Gewalt ist, und deswegen ist es besser, zuzuhören und zu verstehen, anstatt sich zu streiten und recht haben zu wollen

Ein starker Plot mit bohrenden Fragen über gesellschaftlichen Druck und die Frage, wie wir leben wollen. Ein Roman, der nachhallt und Parallelen ziehen lässt zum aktuellen Diskurs rund um „die Freiheit des Einzelnen“ – die eben leider oft nicht dort aufhört, wo die des Nächsten beginnt.

Fríða Ísberg – Die Markierung, übersetzt aus dem Isländischen von Tina Flecken, 2022 erschienen im Hoffmann und Campe Verlag

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