Wenn ich für mich neue Länder oder Landstriche bereise, lese ich gerne vorbereitend – oder auch währenddessen – Literatur, die aus der jeweiligen Region kommt oder dort spielt. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass ich auf das dünne Bändchen „Quintana Roo“ des mir unbekannten James Tiptree Jr. gestoßen bin. Ein schmales Bändchen mit drei Erzählungen. Eigentlich lese ich nicht gerne Kurzgeschichten, aber im Urlaub ist die Aufmerksamkeitsspanne ja oft etwas kürzer und dementsprechend: raus aus meiner reading comfort zone!

Und ich muss sagen; glücklicherweise! Denn das Büchlein entpuppte sich als Glücksgriff, der schon bei der Kurzbiographie des „Autoren“ anfing: hinter dem männlichen Pseudonym verbirgt sich nämlich eine Frau! Alice B. Sheldon zählt unter versierten SF-Fans in eine Riege mit den ganz großen wie Philipp K. Dick, hatte sich aber aus Gründern der Diskriminierung ihrerzeit (um 1960) für Veröffentlichung unter Pseudonym entschieden. Generell scheint Alice eine wahnsinnig spannende Persönlichkeit mit einem sehr bewegten Leben zwischen Auslands-Expeditionen und CIA gewesen zu sein. Im Septime Verlag, der neben Quintana Roo auch ihre weiteren Erzählungen veröffentlicht, ist auch eine ausführliche Biografie zu ihr erschienen. Sicher ein spannender Tipp für Personen, die gerne Lebensgeschichten lesen!

Doch nun erst einmal zu Quintana Roo: ich bin begeistert von der Aktualität der direkt angesprochenen sowie mitschwingenden Themen, die in den Kurzgeschichten Erwähnung finden. Es geht um Naturschutz ebenso wie um Kolonalisierung, Landraub und Eroberung, um Mythos vs. Kommerz, um Legenden gegen den Verstand. Wir haben unseren Urlaub an der Playa del Carmen verbracht – ein, wie der Name schon vermuten lässt, touristisch erschlossenes Strandgebiet, umgeben von einer gated community. Quintana Roo ist ein Bundesstaat der krassen Gegensätze: da gibt es Cancún, die künstliche Retorten-Stadt ohne historischen Kern, rein geschaffen für Tourismus. Dem gegenüber, wenige Stunden Fahrt in die andere Richtung, stehen jahrhundertealte Maya-Ruinen, deren Baukunst, ausgerichtet nach der Sonne, nach wie vor Bestand hat. Die einzigen dort erlaubten Bewohner sind die großen Echsen.

Und unter allem – ob alt, ob neu – befindet sich das weltweit größte, verbundene natürliche System an Süßwasserhöhlen, die Cenoten. Sie untertunneln komplett Mexiko, sind manchmal von oben zugänglich, manchmal komplett unterirdisch, in vielen Fällen noch gar nicht erschlossen. Hier befindet sich laut Glauben der Maya der Zugang zur Unterwelt, außerdem der einzige historische Zugang zu Süßwasser, den der trockene und heiße Landstrich hat. Alice B. Sheldon war von dieser Vielfalt und Gegensätzlichkeit wohl ähnlich fasziniert wie ich und muss zudem wirklich an den gleichen Stellen gestanden haben – so las ich die Kurzgeschichten am Strand mit diesigem Blick auf die Insel Cozumel…

Was die See bei Lirios anspülte

Eine Aussteigerin, die ein abgeschiedenes Leben lebt. Ein junger Mann, der den Widrigkeiten der Natur trotzt und die Küste auf und ab wandert. Sie gewährt ihm einen Unterschlupf für die Nacht, und er revanchiert sich mit einer Geschichte. Hat er sie selbst erlebt – kann das überhaupt sein? Mystik, Schauer, ein Piratenschiff und eine verhängnisvolle Entscheidung…

Der Junge, der auf Wasserskiern in die Ewigkeit fuhr

Ist es möglich, die Strecke der Insel Cozumel bis zur Küste Yucatans nur auf Wasserskiern zu überwinden? Genie oder Wahnsinn?

Hinter dem toten Riff

Der kritische Blick auf die Urbanisierung Quintanta Roos, die Retortenstadt Cancun und die Frage, was die Vielfalt und das Leben der indigenen Natur dem Tourismus wert sind. Über die Gefahren des Tauchens und über Natur, die zurückschlägt.

Mir haben die Geschichten sehr gut gefallen und literarisch perfekt zum Urlaub gepasst. Mexiko ist groß, es war dann doch ein Zufall, dass ich die genannte Insel 20 Kilometer gegenüber von meinem Leseplatz tatsächlich sehen konnte 🙂 Mein Lesetipp für alle, die dieses Genre mögen und mal ein wenig abseits der großen Ströme fischen wollen!

James Tiptree Jr. – Quintana Roo – Sämtliche Erzählungen, Band 5, erschienen 2011 im Septime Verlag, übersetzt von Frank Böhmert